Asinara
Wie weit sind der Südzipfel Korsikas und das (einstige) Alcatraz Sardiniens voneinander entfernt? Auf der Karte sieht es aus wie ein Katzensprung. Aber das täuscht. Der Katamaran, mit dem wir diese Strecke antraten, benötigte neun Stunden bei rauer See. Und dabei fuhr er sogar mit Motorantrieb auf direktem Kurs – ohne Umwege durch Kreuzen-Müssen.
Als wir vor der Isola dell’Asinara ankerten, war uns allen leicht bis schwer übel. Nur dem Capitano nicht. Wie auch. Seine Magenwände waren sicher so zugeteert wie seine Lunge. Da hob sich nichts mehr. Bloß die Stimme – „No!!“ wenn Guido, Koch und Mädchen für alles wieder was falsch machte – z. B. die Ankerkette zu schnell los ließ oder die Fender zu spät justierte.
Während il Capitano und il Cuoco noch mit dem Vertäuen zugange waren – laut dem allwissenden Capitano drohten Ausläufer von Hurrikan Dorian aus Florida des Nachts an der sardischen Küste einzufallen – erweckte uns der Anblick des verwunschenen Ufers und der türkis funkelnden Bucht wieder zum Leben. So schwamm der eine, die andere schnorchelte, die Dritte paddelte zum „Festland“.
Und brachen gleich darauf in Entzückensschreie aus ob der zotteligen weißen Esel, die da vor den Ruinen und an den zerschlissenen Sträßchen frisches Gras abnagten, ihre langen Ohren wie Rotorblätter im rechten Winkel vom Kopf abstehend. In Badehosen und Bikinis posierten wir für zig Selfies: neben einem Esel, hinter einem Esel, Esel-streichelnd, Esel-kraulend, Esel-umarmend … Keins der Tiere hob auch nur einmal sein Haupt oder ließ sich sonstwie beim Grasen stören.
Total an Touristen gewöhnt, die zum Tagesausflug in großer Fähre herangeschippert werden, wenige Meter über die Pier trotten und dann gleich in Golfcart-große Elektroautos steigen oder – wenn Kinder im Schlepptau – in eine kleine Bimmelbahn auf Rädern. Und los geht’s, die Nordostküste hoch bis zum einzigen richtigen Ort Cala d’Oliva, wo im ehemaligen Zentralgefängnis Dokumente und Gegenstände aus der alten Zeit ausgestellt werden. Gehtüchtige biegen vorher rechts ab und laufen eine halbe Stunde zur Traumbucht Cala Sabina.
Es brauchte über dreißig Jahre, um Asinara zu „befreien“ und für unbescholtene Bürger zugänglich zu machen: Von 1967 bis 1999 versuchte die Gemeindeverwaltung von Porto Torres durchzusetzen, die Gefängnisinsel zum Naturschutzgebiet zu erklären. Mehrmals war die Errichtung des Nationalparks schon beschlossene Sache, doch dann kamen wieder hochgefährliche Mafiosi dazwischen, die die Regierung nirgendwo anders sicherer verwahren konnte als auf Asinara. Tatsächlich war der sardische Bandit Matteo Boe der einzige Inhaftierte, dem je die Flucht gelang.
Bevor die Insel in den 1970er-Jahren zum Hochsicherheitsgefängnis wurde, war sie eine Strafkolonie – von 1885 an. Entsetzliche Zustände müssen nach dem Ersten Weltkrieg geherrscht haben: Tausende Kriegsgefangene wurden hier buchstäblich abgeladen. Viele verhungerten oder gingen an Cholera zugrunde. In den Buchten trieben die Leichen. Der Gestank muss furchtbar gewesen sein. Heute erinnern nur noch die Ruinen und verrosteter Stacheldraht an diese grausamen Zeiten.
Allerdings gab es um 2012 Pläne, zwei Gemäuer wieder ihrem alten Zweck zuzuführen, weil die Gefängnisse auf dem italienischen Festland aus allen Nähten platzen. Der Vorschlag kam vom damaligen Premierminister Mario Monti und der Justizministerin Paola Severino, wurde aber nicht in die Tat umgesetzt, weil die Restaurierung zu aufwändig gewesen wäre …
Und so konnten K. und ich sorglos auf Erkundungsfahrt gehen. Aber nicht in E-Mobils. Nach dem stundenlangen Liegen/Sitzen an Bord wollten wir unsere erschlafften Muskeln fordern und liehen Mountainbikes ohne Elektrounterstützung. Wir folgten dem Rat vom Capitano, der den Verleiher kannte und zu wissen schien, welche Räder die besten waren. Einige Kilometer weiter südlich, an der Cala Trunca, versuchten wir zum ersten Mal, Herren der Kette zu werden, die sich beim Runterschalten hartnäckig zwischen Ritzel und Rahmen verklemmte.
Doch so kam es, dass wir auf ein Eseljunges aufmerksam wurden, dessen Köpflein ähnlich arretiert war, weil es seinen Hals durch die Lücke eines niedergetreteten Drahtzauns geschoben hatte und sich darin, wohl nach wildem Befreiungsversuch, so verheddert hatte, dass ihm der Draht fast die Luft abschnitt. Ein erbärmlicher Anblick: Das arme Tier lag unglücklich auf verdrehten Beinchen und hatte vor Panik mehrmals gekotet. Die Eselmutter stand in sicherer Entfernung und i-ahte laut.
Wir versuchten, den Draht aufzuzwirbeln – hoffnungslos. Eine Kneifzange musste her. Il Capitano hatte sicher eine, aber Handyempfang ist auf Asinara quasi nicht gegeben. Ich lief zur Straße und hielt einen Touribus an. Die italienische Reiseleiterin versprach, am Pier jemand offizielles zu verständigen. Anscheinend fand sie keinen, oder der Offizielle hatte die Notlage mit „E allora? Un asino più o meno …“ („Na und? Ein Esel mehr oder weniger …“) abgetan.
Dann kam in der Ferne ein Jeep die Serpentinenstraße entlang. Ich signalisierte mit Heben und Senken der Arme das Seefahrer-Notsignal. Der Wagen stoppte an der Stelle, wo es zu uns nur auf einem Trampelpfad weiterging. Zwei nach italienischen Rangern aussehende Männer sprangen heraus und rannten alarmiert die Böschung herunter auf uns zu. Sie nahmen die Lage immer noch ernst, als sie sahen, dass ein Esel, kein Mensch, um sein Leben rang.
Ohne zu zögern quetschten sie das arme Eselchen mit brachialer Gewalt zurück durch die Schlaufe: Der Eine presste ihm die Ohren an den Hals und drückte es zu Boden. Der andere zerrte ihm den Draht über den Kopf. Ich konnte kaum zusehen und fürchtete: Der steht nie wieder auf. Aber so war es nicht. Kaum war das Tier befreit, lief es schnurstracks zu seiner Mutter, schnappte sich mit dem Maul ihre Zitze und fing an, ausgiebig zu saugen.
Wir waren alle völlig aus dem Häuschen und konnten gar nicht mehr aufhören, uns gegenseitig „Molto grazie!“ zuzurufen.