Donaudelta
Rumänien – das Land, in dem Dracula nachts seinen Blutrausch bekam … Alles erfunden, wie ich auf dieser Reise lernte. Außerdem ist diese Mär in Transsilvanien verortet, einem ganz anderen Teil Rumäniens. Unsere Truppe – 18 an der Zahl – bewegte sich nämlich weit südlich der Südkarpaten am Ende des flachen Landteils: im Donaudelta. Hier ist die Donau auf ihrer langen Reise dank zahlreicher Zuflüsse zu einem kolossalen Strom angeschwollen. Nichts mehr zu sehen von dem Blau, das ihr bei Passau zugesungen wird. Graubraun zeigte sich uns der Strom und hochwässern: Die Schneeschmelze der österreichischen Berge hatte den Pegel trotz regenarmer Monate weit ansteigen lassen. Entwurzelte Bäume trieben an uns vorbei. An den Ufern ragten abgewrackte Schiffe halb untergegangen aus den Fluten.
Beim Eintritt ins eigentliche Delta aber verloren sich solche Ansichten. Die Wasserwege wurden schmal und stiller, das Wasser klar und glätter. Zu Beginn glitten wir noch an Deichen entlang, über Kilometer abgenagt von frei gehaltenen Rindern, die sich zumuhten oder baden gingen. Später wechselte das Ambiente in eine liebliche Üppigkeit. Schwimmende Seerosen-Teppiche flankierten unseren Fahrweg. Im Schatten von Erlen und Pappeln neigten weiße Rösser ihre Hälse, um vom Kanalwasser zu saufen. Im Hintergrund blühten Heckenrosen. Wäsche trocknete an Leinen zwischen Lehmhäusern. Ganz entfernt ragten die silbernen Zinnen einer Basilika in den Himmel.
Dann wichen die festen Ufer. Schilf nahm ihren Platz ein. Kurvenreich und immer labyrinthischer mäanderte der Wasserweg in das Biosphärenreservat. Pelikane, Reiher und Kraniche stoben aus dem Dickicht, aufgeschreckt vom Motorbrummen unsres kleinen Kahns. In solchen Momenten schnellten Smartphones und Kameras nach oben, doch die unbekannten Vögel erschienen gar zu plötzlich, umso flinker flohen sie vor den störenden Touristen, obwohl die doch extra aus Deutschland, Österreich, der Schweiz, ja sogar Kanada angereist waren. Nur die Störche ließen sich nicht vertreiben. Jeder dritte Strommast war von einem Storchennest gekrönt. Dafür duckten sich die Riesenvögel bald, nachdem sie uns sichteten, sodass aufs Neue kein scharfes Vogelfoto zustande kam.
D., der in Leipzig als Robin-Williams-Double arbeitet, passte auf wie ein Luchs, dass bloß keiner auf die Störche zeigte. Denn das konnte in seinen Augen kein Zufall sein: Wann immer jemand aus seiner Familie den ausgestreckten Zeigefinger auf so einen Vogel gerichtet hatte, war neun Monate später ein neuer Verwandter zur Welt gekommen. D.s Sippe war dadurch kontinuierlich größer geworden, hatte kürzlich gar die Kelly-Family in Sachen Familiengröße aus dem Buch der Rekorde verdrängt.
Gewarnt richteten wir all unsere Blicke ins dunkle Nass, das uns vieles offenbarte, zum Beispiel: Auf beinahe jedem Seerosenblatt saß ein Frosch. Einer davon vernarrte sich in das Aroma der Zigarillos, die die frisch vermählte B. legal an Deck genoss. Immer wenn sie ihre Rauchpause beendet hatte, sprang der grüne Hüpfer in den Aschenbecher und machte es sich neben der nass gelöschten Zigarillo bequem (siehe Bildergalerie).
Es gab noch mehr schwimmendes Getier, Wasserschlangen nämlich und Blutegel. I. sah darin ihre Chance auf einen verjüngenden Aderlass. Sie wusste von Demi Moore, dass Blutegel am Bauch das Geheimnis ihrer Schönheit seien. R., Agil-Aging-Arzt aus München, lehnte jedoch ab, den Wurm anzusetzen. Er hielt nichts davon, hatte auch noch nie etwas von der Münchener Juchheim-Kosmetik gehört. R. betonte, nur „barfuß“ zu therapieren, und überdies sei er „Humanist“.
D.s Frau V. war begeistert von seiner wissenden Rhetorik und engagierte R. am Ende für eine Abschlussrede, die den Reiseleitern L. und M. zur Ehre gereichen sollte. An diesem letzten Abend würde selbst das Schweizer Pärchen J. und A.-M. noch lange am Abendbrottisch sitzen bleiben. Einfach aufzustehen wäre auch unhöflich gewesen. Denn L. und M. hatten zum feierlichen Abschluss zwei Musiker engagiert: einen zwar zahnlosen, dafür umso virtuoseren Akkordeonspieler, dazu einen inbrünstigen Sänger und Geiger, dessen Violine verstimmt wirkte, wobei dies sicherlich ein stilistisches Mittel war, welches O., Kanadas Königin, erst gequält grimassieren ließ, dann schlichtweg sprachlos stimmte.
Obwohl der Sänger trotz eng anliegender weißer Hosenbeine alles andere als schwul wirkte, hatte er deutlich ein Auge auf K. aus Dortmund geworfen. Dieser saß ihm schräg gegenüber in einer Ecke der U-förmig aufgestellten Tische. Immer wieder signalisierte er K., ihn attraktiv zu finden und wurde sehr ungeduldig, wenn K. bei den Choreinsätzen nicht deutlich schallend grölte.
L. feuerte alle Anwesenden zusätzlich an, sodass es – einigen weniger genehm – zu Zugaben kam. L.s Aufforderung schließlich, die Musiker – konzertbeendend – mit den kunstvollen Serviettenblumen zu bewerfen, wurde – teils erleichtert – Folge geleistet.
Das alles geschah in einem gemauerten Gasthaus ausgefallener Architektur in Tulcea. Hinter uns lagen die Tage an Bord des kleinen Hotelschiffs, das auch vorher schon streckenweise ohne uns weiterfuhr, weil wir auf Stahlrössern kräftezehrende Ausflüge ins Umland unternahmen. Einer wirkte dabei niemals erschöpft: A. aus der Nähe von Frankfurt. Auf der letzten Etappe zu einer hoch gelegenen Burgruine gab er sogar noch Tempo. Da war die Hälfte der Truppe schon in den Bus umgestiegen, der uns sicherheitshalber verfolgte. Der Rest der Radler schaltete keuchend Gang um Gang runter oder schob gar. Die Österreicherin K. gab nicht mal trotz großflächiger Sonnenbrandblasen am Rücken auf. Vater H. war sehr stolz. Immerhin erreichte sie als Letzte den Serpentinenweg zur mittelalterlichen Festung. A. endete dort wie schon angedeutet als Allererster. J. als Vierter, denn er behielt dank Schweizer Hightech-Mütze immer einen kühlen Kopf: Sein unscheinbar beiges Cappy blies sich beim Fahren zu einer luftgefüllt isolierenden Haube auf.
Am weiter oben angerissenen Tag, an dem wir mehr und mehr in die Tiefen des Deltas trieben, blieben die abgerockten Räder an Bord eines kleinen Extraboots, das im Schlepptau des Hotelschiffs fuhr. L. und M. erklärten uns die Vegetation. Denn das Grün ringsum unterschied sich in einer Sache grundlegend: Während weite Flächen von Schilf und anderen Pflanzen eingenommen waren, die an diesen Stellen tief unter Wasser im Grunde wurzelten, handelte es sich bei anderen Grünflächen um schwimmende Inseln.
L. führte uns dies vor Augen, indem er sich über die Reling beugte, mit beiden Händen einen Büschel Schilf packte und daran zog. Sofort hob sich dadurch das gesamte „Beet“ mit an – zumindest der vordere Teil, aus dem die Zweige ragten, an denen L. soeben riss. Wir lernten: Ein sicherer Hinweis darauf, dass die Grünfläche in einem schwimmenden Geflecht aus Tausendblatt wurzelte, war, wenn vor so einem Schilfmeer Farn wuchs oder Wasserminze.
M., dem die Erzählkunst angeboren war, beschrieb besonders anschaulich, wie flexibel diese schwimmenden Inseln ihre Standorte wechseln konnten. Über Nacht könnte sich so die gesamte Infrastruktur im Donaudelta ändern. Schiffsleute und Fischer, die hier seit Jahrzehnten fuhren, erlebten beinahe täglich neu arrangierte Wasserwege. Und wenn sie nicht aufpassten, könnte es sogar schnell passieren, dass sie samt Boot von einer Insel eingefangen wurden, aus der sie sich nur mühsam befreien konnten. – Wie Recht er behalten sollte!
Denn hier – weit weg vom Festland, umgeben von schwimmenden Inseln – sollten wir diesmal die Nacht verbringen. Selbstverständlich wurden keine Anker ausgeworfen, das war im Naturreservat nicht erlaubt. Stattdessen banden L. und M. das Hotelschiff vorne und hinten an stabilem Schilfrohr fest. Vermeintlich stabil, in Wahrheit flexibel! Hätte nicht auch L. es wissen müssen? Oder war es gar seine heimliche Leidenschaft, falsche Erwartungen zu wecken? Dafür sprachen seine paradoxen Beschreibungen anstehender Touren. Anfangs war das ärgerlich, am Ende richtig witzig. Leider nicht in seinen Augen: Als A.s Frau M. und K.s Freundin I. bei seiner letzten, vorgetragenen Tourenbeschreibung einen herrlichen Lachkrampf bekamen, stampfte L. erbost auf, forderte Respekt und drohte andernfalls mit schlimmen Schotterpisten.
Von daher können die schrägen Musiker auch eine kleine Rache an uns gewesen sein. Nicht aber, dass unser Hotelschiff über Nacht von schwimmenden Inseln umwuchert wurde. Als wir am nächsten Morgen im kleinen Speisesaal eintrafen, arbeitete die Crew bereits seit Stunden mit Macheten an der Befreiung des Schiffs. Immer wieder ließen sie den Motor aufheulen und versuchten, den Schlingpflanzen zu entkommen. Doch so sehr das Hotelschiff auch an den grünen Ketten riss – ein Loskommen war nicht. K., die Therapeutin, mahnte, das traumatisiere die versteckt im schwimmenden Grün brütenden Vögel. O.s Mann, der in Kanada eine ganze Hühnerfarm besaß, hielt zwar dagegen. Dafür machten sich A. und R., ebenfalls aus München, umso mehr Sorgen um das Naturreservat.
Und so kam es, dass der missverständliche L. zum Helden wurde. Seine Furchtlosigkeit gegenüber dunklen Gewässern hatte er schon vorher bewiesen, wenn er allabendlich in der Donau schwimmen ging, auch wenn er sich gleich bei der ersten Gelegenheit an einem überschwemmten Stacheldrahtzaun das Bein aufgerissen hatte. Unverdrossen zog er sich an diesem Morgen wieder resolut seine Chlorbrille über den Kopf, atmete ein paar Mal tief durch und sprang dann von Deck. Einmal noch kurz Luft geholt, dann tauchte er unter das Boot, wo er die Schiffsschraube mit Machete und Schere von ihrer grünen Umwicklung befreite. Nur so kamen wir los.
Doch beim Auftauchen spürte L. Taubheit in Armen und Beinen, erkannte uns nicht wieder, wusste nicht mal mehr, wie er hieß. R. erkannte gleich, dass es sich um eine Methanvergiftung handelte, und wusste: Eine Mütze Schlaf würde L. wieder auf die Beine helfen. M. war es, der uns aufklärte: Auf ihrem Weg durch zehn europäische Staaten, viele davon ohne Kläranlagen, würden Unmengen Nährstoffe, allen voran Stickstoff und Phosphor, in die Donau geleitet. Entsprechend überdüngt sei das Delta und forciert das Wachstum des Schilf, der Unterwasserpflanzen und Algen. Umso mehr Biomasse sterbe ab, sinke an den Grund und faule. Und genau dabei werde jede Menge Methan freigesetzt.
Es war der frisch vermählte Weinkenner N., der L. kurzerhand neues Leben einhauchte, indem er diesen an seinen Respirator anschloss und auf höchste Leistungsstufe stellte. Nach kaum einer halben Stunde war L. wieder fit und freute sich wie ein kleiner Bub, als wir ihn mit den Serviettenblumen vom Vorabend bewarfen.
[Anmerkung: Sicher haben die Mitgereisten am meisten Freude an diesem Text, allen anderen sei gesagt, dass nicht alles so geschah wie beschrieben ;.-]