Isle of Wight
Als wir im Juni 2012 von London aus per Mietwagen Richtung Südengland kurvten, waren wir so naiv zu glauben, in den vielen Guesthouses würde man spontan ein Zimmer bekommen. Dies war ein völliger Irrglaube. Hatten wir bzgl London noch alles richtig gemacht und im Voraus online billig gebucht (nämlich im Travelodge London Aldgate East Hotel um die Ecke der Tower Bridge), fielen später umso mehr Pfunde an. Grund war auch, dass die Queen ihr diamantenes Thronjubiläum feierte (60 Jahre Königin), die Briten frei bekamen und fast alle nach Südengland fuhren. Allein der Stau auf den Straßen entlang der Küste vereitelte all unsere Pläne, weit nach Südwesten vorzudringen, zu den Heligan Gardens in Saint Ewe und dem Trebah Garden in Falmouth.
So geschah es, dass wir in Lymington vor der Isle of Wight strandeten. Kurz vor Einbruch der Dunkelheit stießen wir hier etwas abgelegen auf ein altehrwürdiges Landhaus inmitten grüner Hügel und Pferdekoppeln. Eine rüstige alte Dame brachte gerade den Abfall heraus, als wir unseren Golf (der Verleiher war ganz stolz, uns ein deutsches Auto zu geben) auf dem Kiesplatz parkten. Wenige Sätze später war klar, dass Zimmer frei waren und die Hausherrin Brigitte Tee-Hillman Deutsch sprach, weil sie aus dem Schwabenland stammte.
Schnell erfuhren wir ihre aufregende Lebensgeschichte, die sie mit zahllosen Fotografien und Zeitungsartikeln belegte: Als eine der ersten Stewardessen bei Pan Am verliebte sich Brigitte Tee Anfang der 60er in einen amerikanischen Piloten, heiratete ihn und zog mit ihm nach London. Doch der Pilot war untreu. Brigitte Tee wollte sich scheiden lassen und suchte Rat bei Rechtsanwalt John Hillman. „Nun“, erwiderte der, „am schnellsten geht es, wenn Sie eine Affäre haben.“ Am nächsten Tag sprach Brigitte Tee erneut in der Kanzlei vor und fragte Hillman, ob er nicht eine Affäre mit ihr eingehen wollte. Hillman wurde ihr zweiter Mann und Vater ihres Sohnes.
Die außergewöhnlichste Episode handelt davon, dass zu der Zeit, in der die Schwäbin nach Südengland kam, um 1973, niemand in ganz Großbritannien heimische Pilze pflückte geschweige denn aß. Begeistert über den von niemandem sonst abgeernteten Reichtum in Deutschland teuer zu erstehender Pilzsorten stromerte die junge Frau durch den New Forest National Park, pflückte kiloweise Pilze und bot sie verschiedenen Restaurants zum Kauf an. Gerade die Köche deutscher Herkunft, auch von großen Hotels, waren begeisterte Abnehmer. Bald fuhr Brigitte Tee ihre Pilze zu den erlauchtesten Adressen aus, darunter Spitzenrestaurants wie Michel Roux Jr’s Le Gavroche oder das von Henry Brosi im Fünf-Sterne-Hotel Dorchester. Sogar bei der Queen sei sie gewesen, erzählte sie uns.
33 Jahre ging das so, bis das Forstamt des Nationalparks aufmerksam wurde und ihr das Pilzepflücken verbot. Brigitte Tee pflückte weiter. Am 16. November 2002 lauerten ihr Polizeibeamte dabei auf und steckten die damals 60-Jährige ins Gefängnis. Der Fall ging wie ein Lauffeuer durch die Presse. Alle fanden barbarisch, was man „Mrs Magic Mushrooms“ antat, hatte sie die britischen Pilze doch erst bekannt gemacht. Sie wurde freigelassen und erhielt als einzige Person in ganz Südengland die Lizenz, Pilze zum Verkauf zu pflücken. Für die Einnahmen muss sie seitdem aber Steuern entrichten.
Mittlerweile lebt Brigitte Tee-Hillman alleine im Gorse Meadow House und vermietet auf der oberen Etage sechs Gästezimmer. Im Erdgeschoss veranstaltet sie Kochkurse. Pilze spielen darin natürlich eine Hauptrolle. Aber auch andere Zutaten … Während unseres Aufenthalts wurde der Kochkurs von einem italienischen Koch geleitet: Tony kümmerte sich auch um unser Frühstück und pries am Vorabend seinen „black pudding“ an: „It’s so beautiful!“, schwärmte er uns vor. Obwohl wir wussten, dass die Briten morgens gern herzhaft essen, freuten wir uns in Ermangelung englischen Vokabulars auf Schokoladenpudding. Aber es war kein Pudding, was Tony uns am anderen Morgen stolz auf die Frühstücksteller legte, sondern gebratene Blutwurst.
(Auf dem Blog von Joachim Ott ist ein schöner kleiner Film über Brigitte Tee: testschmecker.de/2013/01/22/mrs-tee-the-art-of-mushroom-picking/)