La Gomera
Mit einem Hang zu Höhenangst kann man sich auf der Kanareninsel La Gomera warm anziehen. Zwei Wanderungen haben wir gleich auf den ersten Metern abgebrochen, weil mich die fast senkrechte Tiefe entlang des schmalen ausgesetzten Weges überforderte. Meine PC-bedingte Kurzsichtigkeit hätte hier mal von Nutzen sein können, war sie leider nicht. Die beiden phantastischen Wanderwege, von denen ich spreche, zweigen von einer Aussichtsplattform bei Arure ab: Mirador del Santo. Den überwältigenden Einblick ins 850 Meter tiefer gelegene Tal von Taguluche erhascht man hier über die gemauerte Brüstung hinweg.
Auch beim Aufstieg vom lieblichen Tal La Laja Richtung Mirador de El Bailadero kam ich an meine Grenzen und konnte die Aussicht gar nicht genießen. Streckenweise starrte ich nur auf das Felsband zu meinen Füßen, höchstens hielt ich nach dem nächsten Steinmännchen Ausschau. Spätestens nach dieser Ojila-Runde um die Roques las ich die Angaben im Rother-Wanderführer genau. Wenn von „ausgesetzten Pfaden“ die Rede war und die Route schwarz gekennzeichnet, nahmen wir eine andere.
Was Wanderwege angeht, hat man auf La Gomera ohne Ende Auswahl. Die Insel ist touristisch voll auf Wanderreisen ausgelegt. Auch ganz ohne Reiseführer findet man sich dank bester Beschilderung zurecht. Bloß das Hinkommen ist meistens eine kurvenreiche Fahrt, auf der dichter Nebel und Bluescreen-blauer Himmel wechseln können. Die Busse fahren selten. Einige Leute trampen, andere schließen sich geführten Wanderungen an. Das hat u. a. den Vorteil, dass man keine Runden gehen muss.
Mit Ausnahme weniger (Briten), die den ganzen Tag nur am Hotel-Pool abhängen, trifft man überall aktive Wandersleute – viele Deutsche, stets in kompletter Montur mit Bergstiefeln und -stöcken, großem, prallem Rucksack, karierten Markenhemden, kürzbaren Hosen, sportlichen Sonnenbrillen, Käppis, Halstüchern, Schrittzählern … Klar, dass ich da auf meine Wandersandalen angesprochen wurde: „Herrje, können Sie denn damit laufen?“ – „Sieht doch ganz so aus!“
In Alojera fiel ich in meiner unüblichen Wanderkluft nicht mehr auf. Wir trafen noch zwei andere Pärchen mit Reiseführern, in denen ebenfalls vom „einsamsten Strand der Insel“ die Rede ist. Auch sie waren genau deswegen hergekurvt. Weit gefehlt:. Von der Dorfkneipe angefangen bis runter zur Bucht ist Alojera eine regelrechte Hippiehochburg. Überall sind Zelte aufgeschlagen, Wege markiert, Schilder installiert. Mitzwanziger aus ganz Europa, mit und ohne Kiddies, in teils Jesus-ähnlicher Garderobe oder auch nackt, halten Besprechungen ab, händchenhaltend im Kreis stehend.
Früher war das Valle Gran Rey ja die erste Anlaufstelle für Dreadlocksträger. Es leben auch immer noch jede Menge deutscher Aussteiger dort. Sie führen Cafés, bieten Bootstouren an, Yoga, Massage, Rückführungen – oder Aloe-Vera-Produkte aus dem eigenen Garten. Der von Claus Heinrichs seit den 70ern herausgegebene „Valle-Bote“ ist in jedem Geschäft in der Auslage – außer Konkurrenz. Ein regelrechter Monopolist. Aus seinem Magazin habe ich erfahren, wie man einen Lidl-Einkaufswagen zum Regal fürs Hippie-Heim umfunktioniert, wieviele Millionen Liter Fäkalien täglich vor den Kanaren ins Meer gehen und dass es in Dortmund den ersten Gummipuppenpuff gibt … Ein echt abgefahrenes Magazin, dass man auch im kalten Deutschland beziehen/abonnieren kann 😀